Wenn ich die Frage in meinen Yogastunden stelle, dann schauen immer alle verschämt zu Boden und antworten „viel zu wenig“. Das trifft wahrscheinlich auf uns alle zu – auch ich selbst neige dazu, noch jede kleinste Erledigung mit dem Fahrrad zu machen. Einer Studie zufolge laufen kanadische Jugendliche täglich gerade mal 11 Minuten lang zu Fuß (Bowman 2018, 54). Zu der Zeit in der Yoga entstand, sah das – wenig überraschend – etwas anders aus: alles wurde zu Fuß erledigt, somit liefen die Menschen täglich fünf bis zehn Kilometer weit.
Aber was ist eigentlich das Problem damit, dass wir unsere Gehmuskeln vernachlässigen? Die zwei Muskeln, um die es diese Woche geht und die ganz zentral zum zu-Fuß-gehen sind heißen Psoas Major und Iliacus – oft zusammengefasst als „der Iliopsoas“, kurz „Psoas“. Die deutschen Namen sind eingängiger: Hüftbeuger oder Beinheber. Wenn der Iliopsoas anspannt, dann wird (je nach Schwerkraft und der Aktivität der anderen Muskeln, der „Antagonisten“) entweder unsere Hüfte gebeugt oder eben das Bein gestreckt.
Du kannst dir vorstellen, dass der Iliopsoas zu Zeiten vor der Erfindung des Fahrrads, Autos und des E-scooters bei allen Menschen ein wahnsinnig starker und trainierter Muskel war. Das ist heute anders. Bei den meisten von uns ist er schwach, verkürzt oder zu lang und oft dauerhaft verspannt.
Der Psoas Major nun ist darüber hinaus der einzige Muskel, der unsere Beine direkt mit dem Oberkörper verbindet: Er hat seinen Ursprung am 1. bis 5. Lendenwirbel und dem Wirbelkörper des untersten Brustwirbels und setzt dann am Oberschenkel an (schöne Grafiken in Long 2017, 57ff – wenn nicht zur Hand, dann Wikipedia). Damit wird klar: Der Muskel, den wir zum Laufen benutzen trägt ganz entscheidend dazu bei, wie wir unsere Wirbelsäule aufrichten. Und wenn du dir jetzt noch klar machst, dass dieser starke Muskel an allen Wirbeln des unteren Rückens ansetzt, dann wird verständlich, warum unspezifische Schmerzen im unteren Rücken (über die ein großer Teil der Bevölkerung klagt) sehr oft mit einem nicht richtig funktionierenden Psoas zusammenhängen. Oder anders: dass wir unsere Wirbelsäule nicht richtig aufrichten können und Schmerzen im unteren Rücken haben liegt auch daran, dass wir kaum mehr zu Fuß gehen.
Kann Yoga helfen? Tatsächlich ist es so, dass die meisten Yoga-Übungen den Psoas dehnen. Das machte Sinn: Zu der Zeit, zu der Yoga entstand, war der Psoas ein äußerst starker und trainierter Muskel. Es war funktional, ihn viel zu dehnen. Und heute..? Sowohl als auch: Dehnen ist eine Möglichkeit, einen Muskel zu entspannen. Wenn der Psoas vom zu vielen Sitzen verspannt ist, dann schaffen Dehnübungen schnell Erleichterung. Andererseits ist der Muskel eben auch verspannt, weil er zu schwach ist. Wir müssen den Psoas nicht nur dehnen, sondern ihn auch trainieren!
In die Yogapraxis dieser Woche lasse ich daher nicht nur Übungen einfließen, die den Psoas dehnen. Sondern auch solche, die ihn kräftigen. Du wirst die Praxis spüren – durch tiefe Entspannung danach. Aber möglicherweise auch durch Muskelkater am nächsten Tag. Das ist Absicht. Damit wir den Psoas wieder zu spüren lernen, uns seiner Bedeutung bewusst werden – und vielleicht auch anfangen, wieder mehr zu Fuß zu gehen.
Literatur
Bowman, Katy 2018. Bewegung liegt in deiner DNA. Wie man lernt, sich wieder natürlich zu bewegen, und dadurch gesund wird. Riva. 2. Auflage.
Long, Ray 2017. Yoga Anatomie 3D. Riva. 7. Auflage.