Pranayama — reduziere deinen Atem

Wie hängen Yoga und Atmung zusammen?

Was hat es eigentlich mit dem Atem im Yoga auf sich? Yogalehrer sind ja dafür bekannt, dass sie gerne den Atem ansagen („einatmen“, „ausatmen“). In klassischen Yogastunden werden außerdem hin und wieder Atemübungen durchgeführt, am bekanntesten sicherlich: die Nasenwechselatmung.

Und sonst? Der Atem ist wahnsinnig wichtig, das ist wohl bei den meisten angekommen. Aber warum? Und wie atmen wir richtig? Im Laufe meines Yogaweges habe ich viele verschiedene Dinge gelernt, aber wenig verstanden. Einige Yogalehrer lassen die Schülerinnen „dreiteilig“ atmen (Yoga-„Vollatmung“). Andere bevorzugen „Ujjayi“ was deutlich weniger tief erscheint (und mich häufig mit ziemlich angespanntem Bauchraum zurückgelassen hat). Wieder andere halten von Atemlenkung gar nichts. Kurz: je länger ich Yoga praktiziert habe, desto größer wurde meine Verwirrung.

In diesem Artikel möchte ich zwei Publikationen zu dem Thema vorstellen, die für mich wirklich neue Erkenntnis gebracht haben. „Erfolgsfaktor Sauerstoff“ von Patrick McKeown (2018) und „Yoga, die Geheimnisse liegen in der reduzierten Atmung“ (2012) von Dr. Artour Rakhimov (im Selbstverlag erschienen).

Mit der Lektüre wurde mir klar, dass im Hinblick auf die Atmung nicht nur wahnsinnig viel Unwissenheit in der Yoga-Szene vorliegt, sondern darüber hinaus oft sogar ein gefährlicher Fehlschluss darüber besteht, was eine gesunde Atmung bedeutet.

Was besagt „tief atmen“?

Ein großes Missverständnis liegt wohl in dem Wort „tief“. Mal ehrlich, wie oft hast du schon Yogalehrerinnen (einschließlich mich) sagen hören „atme tief“ oder „atme tief und voll“ oder „vertiefe deinen Atem!“? Wahrscheinlich unzählige Male. Was aber bedeutet nun ein tiefer Atem? Umgangssprachlich bedeutet tief atmen, dass wir mit einem Atemzug besonders viel Luft in die Lunge aufnehmen. Es gibt aber noch eine andere Bedeutung von „tief“, nämlich im Sinne von „weit von der Nase weg“, „tief nach unten“. In diesem Fall bedeutet tiefe Atmung also „Bauchatmung“ (wobei wir unser Zwerchfell nutzen) und flache Atmung bedeutet „Brustatmung“. In diesem Sinne geht es bei „tief“ also gar nicht darum, das wir besonders viel Luft in einem Atemzug zirkulieren.

Die Autoren der hier besprochenen Bücher sind Anhänger der Buteyko-Methode. Dr. Konstantin Pavlovitsch Buteyko war ein ukrainischer bzw. russischer Mediziner (verstorben 2003) der erkannte, dass moderne Menschen chronisch überatmen (also mehr atmen als notwendig) und machte dies als Ursache vieler Zivilisationskrankheiten aus. Buteyko versteht nun unter tief genau diese letztere Bedeutung: tief heißt „tief nach unten“. „Tief“ heißt also nicht „viel“. Was wiederum heißt: Wir können zugleich tief UND wenig atmen.

Sowohl McKeown (87ff) als auch Rakhimov (23ff) zeigen anhand klassischer Yogatexte, dass in der alten Literatur nie davon die Rede war, tief im Sinne von viel zu atmen. Sondern im Gegenteil, dass die Kunst des Yogis darin bestehen solle, wenig zu atmen.

Weniger atmen — warum?

Damit haben wir einen wichtigen Punkt verstanden. In klassischen Yoga-Texten bringt uns Pranayama dahin, weniger zu atmen (und nicht mehr). Aber warum? Intuitiv würden wir doch vermuten, dass wir über „tief und viel“ atmen mehr Sauerstoff in die Lunge aufnehmen können?

Das ist auch richtig. Nur: dass wir mehr Sauerstoff in der Lunge zirkulieren, bedeutet nicht, dass wir auch mehr Sauerstoff ins Blut aufnehmen können. Das Blut ist bei allen gesunden Menschen nahezu vollständig mit Sauerstoff gesättigt (94-97%). Das bedeutet, dass wir durch mehr Atmen die Sauerstoffkonzentration gar nicht erhöhen können. Was passiert aber noch, wenn wir extra tiefe Atemzüge nehmen? Wir können zwar wie beschrieben nicht mehr Sauerstoff ins Blut bringen, wir können aber CO2 abatmen (CO2 entsteht ja als „Abfall“Produkt von Sauerstoff wenn z.B. die Muskeln arbeiten). Das heißt, dass wir durch viel Atmen die CO2-Konzentration im Blut verringern. CO2 spielt aber eine wichtige Rolle im Atemkreislauf (es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, hier ins Detail zu gehen). Kurz gefasst: ein ausreichend hoher CO2-Spiegel im Blut ist notwendig, damit das über die roten Blutkörperchen gebundene Sauerstoff überhaupt an die Muskeln und Organe abgegeben werden kann (das ist der seit langem bekannte Bohr-Effekt, McKeown 40ff). Unser vieles Überatmen (die Autoren sprechen auch von „Hyperventilieren“) führt aber dazu, dass wir zu wenig CO2 im Blut haben und daher der Sauerstoff nicht dort abgegeben werden kann, wo er benötigt wird.

Weniger Atmen = mehr Sauerstoff!

Die Quintessence aus diesen Überlegungen ist verblüffend. Wenn wir mehr atmen, also die Minutenventilation (die in der Lunge zirkulierte Menge an Luft pro Minute) erhöhen, dann führt das gerade nicht dazu, dass wir besser mit Sauerstoff versorgt sind. Im Gegenteil, wir verbessern unsere Sauerstoffversorgung indem wir weniger Atmen!

Das gilt natürlich nur unter den Bedingungen, dass wir tatsächlich zu viel Atmen. Bei Rakhimov findet sich eine beeindruckende Auswertung von medizinischen Studien (S. 52) die zeigt, dass sich die Minutenventilation seit den 1950er Jahren nahezu verdoppelt hat. Moderne Menschen „hyperventilieren“ also tatsächlich permanent. Wir atmen doppelt so viel wie noch vor hundert Jahren (obwohl wir gleichzeitig deutlich weniger körperlich arbeiten).

Eigene Erfahrung

Wie sind diese Überlegungen nun einzuordnen? Für mich relativ eindeutig. Denn die Lektüre zeigt auf, dass sich sowohl die traditionellen Yoga-Texte als auch die moderne Wissenschaft in dieser Frage sehr einig sind: im Yoga geht es darum, weniger zu atmen.

Dazu kommt meine eigene Erfahrung, und die eindrücklichste stammt nicht aus der Yogapraxis sondern der Meditation. Wenn ich meditiere (ich meine hier längeres Sitzen von mindestens 20min, nicht die 4 Minuten, die sich manchmal am Ende einer Yogapraxis finden), dann verändert der Atem sich radikal. Er wird ungemein fein und gleichmäßig. Dazu etabliert sich noch eine Atempause zwischen den Atemzügen. Die Atembewegungen werden fast unsichtbar. Und die wohltuenden Effekte sind immens, wobei ich (ich habe früher viel unter Nasennebenhöhlenentzündung gelitten) hier insbesondere die direkten Auswirkungen auf die Atemwege schildern möchte. Ich spüre dann, wie die kompletten Atemwege sich öffnen und frei werden (viel wirkungsvoller und tiefer als das jeder abschwellende Nasenspray je könnte). Oft merke ich wie sich tiefsitzender Schleim löst und abfließt, was so kitzelt, dass ich in oder nach der Meditation hin und wieder sehr laut niesen muss.

Was bedeutet das für den Yogaunterricht?

Es lässt sich wohl nicht wegdiskutieren, dass moderner Yogaunterricht dem hier dargelegten häufig wiederspricht. Viele Lehrerinnen suggerieren durch das permanente sprechen von „tiefen und vollen“ Atemzügen („vertiefe deinen Atem!“), dass die Schülerinnen möglichst viel atmen und dabei das Atemvolumen möglichst vollständig ausnutzen sollten. Rakhimov bringt das zugespitzt auf den Punkt, wenn er behauptet, dass „die meisten Yogalehrer an einen Mythos glauben, der besagt, dass das tiefe Atmen oder atmen von zusätzlicher Luft zu einer Steigerung des Sauerstoffgehaltes im Blut führen würde“ (35). (Und tatsächlich wirst du diese Auffassung in vielen Internet-Artikeln zum Thema Pranayama finden.)

Mein Lehrer Alex Kröker und andere Lehrer haben diese Erkenntnisse insbesondere dazu genutzt, reduziertes Atmen in ihren Vinyasa-Unterricht einzubauen. Sie nutzen dabei die Atemtechnik Ujjayi um den Atem zu verlangsamen und zu beruhigen. Auf diese Weise können Asanapraxis und Pranayama verbunden werden. Die fließende und gleichzeitig körperlich recht herausfordernde Praxis kann so mit einem leichten Atemhunger geübt werden, der den Körper daran gewöhnt mit einem höheren CO2-Spiegel im Blut entspannt zurecht zu kommen und so zu einem natürlichen und gesunden Atemrhytmus zurückzufinden. Diese Verbindung von Asana und Pranayama (im Sinne von reduziertem Atem) ist genau das, was Volker Schmitz (in Rakhimov 2012) empfiehlt.

Probiere es gerne mal aus. Ich habe vor kurzem dazu einen Daily Hero „Vinyasa und Pranayama“ aufgenommen, und bin sehr gespannt auf deine Erfahrungen.

Atmen im Gruppenunterricht — wichtige Fragen für Yogalehrende

Eine offene Frage bleibt aber nach wie vor: wollen wir den Atem auf die Art und Weise reduzieren, dass wir (a) die pro Atemzug eingeatmente Menge an Luft reduzieren, oder aber (b) das Atemvolumen weiter maximal ausschöpfen und statt dessen die Frequenz der Atmung reduzieren? Eine Frage, die sich für Yogalehrende geradezu aufdrängt.

Tatsächlich ist im Gruppenunterricht, in dem die Leherin den Atem vorgibt, nur (a) sinnvoll zu realisieren. Warum? Stellen wir uns vor der Lehrer sagt an: „Einatmen streck die Arme nach oben aus“, „ausatmen tiefe Vorbeuge“ und einer der Schüler ist B.K.S. Iyengar. Wollte der Lehrer warten bis alle Schüler (einschließlich Iyengar) vollständig und maximal langsam eingeatmet hätten (also b), dann müsste er drei Minuten warten, bis er „ausatmen tiefe Vorbeuge“ sagen darf. Kurz, da nie alle Schüler genau auf dem gleichen Level sind muss ein Teil der Schüler im Gruppenunterricht die Menge der eingeatmeten Luft immer reduzieren um vom Lehrer nicht in die Überatmung geführt zu werden.

Wollen Yogalehrende also in einem Kontext, in dem die Atemzüge angesagt werden (wie in vielen Vinyasa-Klassen) die Schüler dazu anleiten, weniger zu atmen, dann kann das nur folgendermaßen gelingen: Die Lehrerin sagt die Atemzüge in einem gewissen Rhytmus an, und die Schüler atmen nur so viel Luft pro Atemzug, dass sie mit leichtem Atemhunger üben. Tatsächlich ist das genau die Methode, die die Autoren der besprochenen Bücher propagieren.

Fehlt da nicht was?

Die besprochenen Autoren sind von ihrer Methode natürlich sehr überzeugt und spitzen ihre Erkenntnisse dementsprechend zu. So drängt sich nach der Lektüre schnell die Schlussfolgerung auf, dass jeder einzelne tiefe Atemzug (jetzt im Sinne von viel) schädlich und zu vermeiden sei.

Demgegenüber steht aber die Erfahrung von sehr vielen Yoginis, die du sicher auch kennst. Nämlich dem wahnsinnigen Effekt den wir spüren, wenn wir in einer Asana (z.B. einer schönen Drehung wie dem Krokodil) den Atem bewusst in eine bestimmte Körperregion lenken, viel Luft dorthin schicken, und so die Dehnung intensivieren und von innen heraus Weite schaffen. Der Yogi nutzt so den Atem (und die Erhöhung des Atemvolumens!) um Veränderungen im Körper anzustoßen und innere Spannungen abzubauen.

Sollen wir das in unserer Praxis nun wirklich permanent unterbinden? Ich glaube kaum. Mir scheint, dass die Autoren in dieser Hinsicht radikaler sind, als sie eigentlich müssten. Denn dass wir das Atemvolumen immer wieder auch komplett ausnutzen, heißt nicht, dass wir dabei das Ziel aus den Augen verlieren müssen, weniger zu atmen. Und auch nach einer Praxis mit tiefen Atemzügen spüre ich ja in Shavasana, dass der Atem feiner und leichter geworden ist.

Allerdings hat die Lektüre meinen Blick auf den Atem noch einmal geschärft und ich beobachte in meiner eigenen Praxis, dass für die in diesem letzten Abschnitt beschriebenen Effekte ein tiefer Atem (im Sinne von viel) gar nicht immer notwendig ist. Sondern dass sich der selbe Effekt häufig auch einstellt, wenn ich das Atemvolumen nur zu einem geringeren Anteil ausschöpfe.

Was ich mitnehme ist, dass wir als Yogalehrende aufpassen müssen, den Schülern durch unsere Ansagen nicht zu suggerieren, dass tiefes Atmen (im Sinne von viel) in allen Situationen die richtige Strategie ist. Vielleicht muss es in der Yogapraxis wieder mehr darum gehen, uns den Atem bewusst zu machen (statt ihn ständig „zu vertiefen“). Denn, wie in meiner Meditationserfahrung beschrieben — wenn wir uns den Atem bewusst machen, dann wird er sich von ganz alleine beruhigen.

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